Luxusschlafstätte Savignyplatz: Obdachlose zeigen ihr Berlin – Querstadtein
By BERLIN LOVES YOU . September 3, 2015
Er besitzt 370 Bücher, 14 Sonnenbrillen und ist nach eigener Aussage Sushi-süchtig: Eigentlich passt Dieter nicht in das Bild des Obdachlosen am Bahnhof Zoo. Im Herbst 2012 lebte er dort, sein Stammplatz lag gegenüber vom Oberverwaltungsgericht Berlin. Die Wärmeabluftgitter des Bahnhofs machen die Temperaturen im Herbst und Winter erträglicher, hier saß Dieter oft in seinem Jack-Wolfskin-Schlafsack auf einer Isomatte, sein Lieblingsgetränk in der Hand: Milch.
Dieter trägt eine verspiegelte Sonnenbrille, seine Zahnlücken zeigen sich, wenn er lacht und das tut er oft. Nach seiner Zeit als Obdachloser am Bahnhof Zoo zog er in ein betreutes Einzelwohnen. Er arbeitete ehrenamtlich in einer sozialen Einrichtung und kam dann mit dem Verein Stadtsichten e.V. (Querstadtein-Homepage) in Kontakt. Stadtsichten e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der sich 2013 gründete und deren erstes Projekt „querstadtein“ heißt: Obdachlose zeigen ihr Berlin. Inzwischen gibt es mehrere Stadtführungen, eine durch Mitte, eine durch Charlottenburg und eine weitere ist geplant. In etwa zwei Stunden zeigen die Stadtführer*innen ehemalige Schlafplätze, Aufwärmmöglichkeiten und persönliche Geschichten.
Die Touren werden akribisch vorbereitet. Ehemalige Obdachlose schildern ihre Welt, lassen einen teilhaben und versuchen Berührungsängste abzubauen. „Obdachlose Menschen sind Menschen, es ist besser einmal kurz „nein, danke“ zu sagen, als einfach wegzuschauen“, sagt Katharina Geue, eine der ehrenamtlichen Helfer*innen von querstadtein. Etwa 15 Menschen sind ehrenamtlich bei Stadtstichten e.V. beschäftigt, es gibt eine Vollzeitstelle, eigentlich bräuchten sie mindestens eine weitere. Die Touren kommen gut an, sowohl bei den Gästen, als auch bei den Obdachlosen. „Wir haben sehr viel positives Feedback bekommen“, sagt Katharina.
Dieters Tour beginnt am Bahnhof Zoo. Er erzählt von der Gruppe Obdachloser, die ihn aufnahm. Zu acht seien sie gewesen, vier Männer und vier Frauen, sechs davon sind inzwischen verstorben. Die meisten erlagen dem Alkohol oder Drogen. Dieter trinkt nicht, noch nie, ab und zu gönnt er sich ein kleines Glas Portwein. Die Gruppe war wie eine Familie, jeder habe eine feste Aufgabe gehabt, erzählt Dieter. Die Aufnahme neuer Mitglieder sei seine Aufgabe gewesen.
„Meine Lieblingsuniversität ist die TU Berlin. Da durften wir rein, uns aufwärmen. Ab dem zweiten Abend wurde uns angeboten, kostenlos zu duschen. Das habe ich gerne angenommen, das war etwas Besonderes“, sagt Dieter. Einmal habe er einen Anzug geschenkt bekommen und nach dem duschen, frisch rasiert, sei er von einem Studenten als Professor angesprochen worden. „In der einen Sekunde war ich obdachlos, in der nächsten Professor“, sagt Dieter und zeigt sein Zahnlücken-Lächeln. Bei manchen Obdachlosen hilft selbst duschen nicht, „viele haben Fleischwunden, die verfaulen am Körper, da kann man dann nichts mehr machen“, erklärt er.
Dieter ist in einer Kleinstadt obdachlos geworden, dort wollte er nicht bleiben und machte sich auf den Weg nach Berlin. Fast zwei Wochen habe er gebraucht, eigentlich wollte er in Südfrankreich landen, aber am Bahnhof Zoo lernte er seine Freunde kennen und blieb. Ein Polizist fragte ihn eines Tages ob er hier, am Bahnhof Zoo, sterben wöllte. Nein, sagte Dieter und der Polizist brachte ihn zur Bahnhofsmission. So sei er in ein betreutes Einzelwohnen gekommen. „Ich habe sechseinhalb Wochen gebraucht, neun Gänge zum Sozialamt, sieben Gänge zum Jobcenter. Nach dem dritten „Nein“ geben die meisten Obdachlosen auf“, sagt Dieter. Er aber hat es geschafft, heute lebt er in Karlshorst in einer eigenen Wohnung. Immer noch beschäftigt Dieter das Schicksal anderer Obdachloser. Er habe eine Art Selbsthilfe-Gruppe für ehemalige Alkoholiker gegründet, lange in einer sozialen Einrichtung ehrenamtlich gearbeitet und natürlich ist er Stadtführer bei querstadtein.
„Der Savignyplatz ist ein Luxusplatz zum Schlafen. Die Bänke sind lang genug, jeder hat sein eigenes kleines Schlafzimmer“, sagt Dieter vor den kleinen, begrünten Bögen unter denen die Bänke stehen. Er ist ein Geschichtenerzähler, die Orte, Menschen und Begegnungen werden in seinen Anekdoten lebendig. Früher, bevor er obdachlos wurde, habe er 8000 Bücher besessen. Heute wachse seine Sammlung wieder. Dieter erzählt von Freundschaft, von Hoffnung, aber auch von Gewalt und Trauer. „Ich habe eine Bitte an euch: werdet nicht obdachlos“, sagt er zum Ende der Tour, vor dem Grünstreifen am Bahnhof Charlottenburg. Im Gebüsch liegen ein paar Bierflaschen und eine Isomatte.
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